Ich weiß, dass ich nichts weiß. (Sokrates)
Wissen und Weisheit
Am kommenden Samstag, 13.8.2016, steht Jupiter ein letztes Mal in exakter Opposition mit Chiron und Saturn wechselt seine Richtung und wird auf 9°47′ Schütze wieder direktläufig. – Ein guter Zeitpunkt, inne zu halten und uns zu fragen, welche Qualität das heute verbreitete Wissen hat und was wir überhaupt wissen können. Gegenwärtig scheinen allzu viele viel zu genau Bescheid zu wissen, was in der Welt vorgeht. Und das ist etwas verdächtig. Es riecht nach Anmaßung, Selbstüberschätzung und unterentwickelter Selbstkritik.
Stellen Sie sich vor, ich würde Ihnen folgenden Satz vorlesen: „Dann wieder habe ich alles beobachtet, was unter der Sonne getan wird, um Menschen auszubeuten“. Ich verrate nur, dass der Satz aus einem ziemlich dicken Buch stammt. Angenommen, ich würde Ihnen jetzt folgende Fragen stellen:
- Worum geht es in diesem Buch?
- Wie heißt das Buch?
- Wer hat es verfasst?
- Welche Haltung steckt hinter dem Text?
- Ist der Autor ein Mann oder eine Frau?
- Wie endet das Buch?
Sie müssten wohl oder übel zugeben, dass sie das nicht wissen können. Hier leuchtet es uns ohne weiteres ein, dass ein einziger Satz keine Rückschlüsse auf den Inhalt dieses Buches zulässt. So wenig übrigens wie eine einzelne Wortäußerung, eine einzige Tat oder Begebenheit im Leben eines Menschen Rückschlüsse darauf zulässt, wer dieser Mensch ist, wo er in seiner Entwicklung steht oder welche Erfahrungen bereits hinter ihm liegen und vielleicht noch vor ihm liegen.
Der Alltag vieler Medien und ganz besonders von Einzelpersonen in den sogenannten Sozialen Medien, die hin und wieder mehr die Bezeichnung Asoziale Medien verdienten, ist es aber, genau solche großen Schlüsse anhand von Einzelereignissen, Wortfetzen, Detailbeobachtungen, Attentaten, etc. andauernd zu ziehen. Irgendwo rastet ein pubertierender Junge aus, der mit sich selbst nicht mehr fertig wird und tötet ein paar Menschen. Sehr sehr tragisch für die Betroffenen und Angehörigen, ohne Zweifel! Daraus aber zu schließen, wohin Europa geht und was unsere weitere Entwicklung sein wird, ist nicht nur vermessen, es ist verrückt!
Dazu kommt noch, dass wir Menschen dazu neigen, linear zu denken. Wir beobachten eine Weile, vermischen das Beobachtete mit unserer eigenen Weltanschauung und projizieren dann munter drauf los in die Zukunft. So als wäre Geschichte jemals linear verlaufen.
Ein wenig erinnert mich das an die Gesetzmäßigkeit der neptunischen Welt, von der Ernst Ott schreibt: Wer sie mit Hass betrachtet, sieht Hässliches. Wer sie jedoch mit Liebe betrachtet, sieht Schönheit und Liebe (Ott, 2015). Im Moment scheinen einige Zeitgenossen sehr viel Hässliches in der Welt zu erblicken.
Der fallende Baum macht Krach, der Wald wächst lautlos. (Tibetisches Sprichwort)
Und in der Tat ist es nicht leicht, bei all dem Lärm fallender Bäume rings um uns, das Schöne und Heile zu sehen, das darunter entstehen will. Möglicherweise ist, was wir gegenwärtig erleben, kein Zusammenbruch, sondern ein Durchbruch. Wer weiß?
Das obige Verhalten, aus einer Beobachtung, einem Satz, einer einzigen, historisch winzigen, Begebenheit, auf das Ganze der Welt zu schließen, ist leider etwas, was auch Astrologen dieser Tage wieder verstärkt tun. So als ob wir von Berufs wegen den Durchblick hätten und alle Antworten. Nichts könnte der Wahrheit ferner sein! Das einzige, was uns Astrologen wirklich von Menschen unterscheidet, die sich nicht mit der Astrologie befassen, ist vielleicht die Frage nach der Bedeutung und dem Sinn. Als Astrologen würden wir einfach gerne wissen, was ein Ereignis bedeutet, wofür es stehen könnte und was man daraus eventuell für zukünftige Ereignisse schließen könnte.
In gewisser Weise sind wir damit dem Psychoanalytiker vergleichbar, der Träume deutet und daraus auf unbewusste Tendenzen, Wünsche und Verdrängtes beim Analysanden schließt. Aber selbst sehr erfahrene Psychoanalytiker wissen, dass man Träume keinesfalls einzeln deuten sollte, sondern immer nur im Verlauf! Und ebenso unsinnig ist es in der Mundanastrologie, Einzelereignisse zu deuten.
Eigentlich machen wir Prognosen in der Astrologie ja nur aus wissenschaftlichen Gründen. Wir stellen bewusst aus bisher Beobachtetem Hypothesen auf, machen eine Prognose und verifizieren oder falsifizieren unsere Hypothese. Die Metagnose – die nachträgliche oder rückwirkende Interpretation von Ereignissen – sollte uns eigentlich nur zur Hypothesenbildung dienen, um in Zukunft treffsicherere Prognosen formulieren zu können. Tatsächlich scheinen machen Astrologen aber nur deshalb zu prognostizieren oder zu metagnostizieren, um ihren eigenen Ruhm zu mehren. Dabei schlagen sie sich dann wie Tarzan auf die Brust und schreien laut: „Seht her, was ich alles weiß, wie klug ich bin! – Und habe ich es euch nicht immer schon gesagt!“
Zweifellos ist das sehr gut für das Ego des Astrologen und für sein narzisstisches Gleichgewicht. Der Sache der Astrologie selbst dient es jedoch nicht.
Will ich mir als Astrologe wirklich einen Überblick verschaffen und verstehen, was in der Welt längerfristig vorgeht, so braucht es viel Wissen, viel Abstand und immer wieder auch viel Schweigen. Von der Anhöhe eines Berges sieht man mehr als im tiefen Tal. Diese Metapher soll verdeutlichen, dass es gerade für Mundanastrologen des Abstandes, des Rückzuges und der Stille bedarf, um wirklich klar sehen zu können. Mir ist bewusst, dass das ein wenig schwierig ist, in einer Welt in der es üblich geworden ist, am besten stündlich zu twittern, facebooken oder was auch immer. Aber vielleicht ist es gerade mit Saturn im Schützen (bis 20.12.2017) sinnvoll, auf die Qualität unserer Äußerungen und Deutungen zu achten und die Quantität deutlich zu reduzieren?
Derzeit läuft es so, dass irgendwo in der Welt ein Unglück passiert, ein Anschlag, eine Naturkatastrophe, ein Politiker-Rücktritt, ein Amoklauf oder was auch immer, und alle sofort mit ihren Schlussfolgerungen bei der Hand sind, welche dann notwendigerweise von der Weltanschauung des Astrologen gefärbt sind und wie aus dem Beispiel eingangs klar geworden sein sollte, bereits im Kern eine Anmaßung darstellen. Wir können aus einem Einzelereignis keine weitreichenden Aussagen oder gar Voraussagen tätigen. Sinnvollerweise sollten wir immer mehrere Daten und ganze Verläufe und Entwicklungen betrachten.
Unter dem Einfluss des Neptun-Saturn-Quadrats kommt gegenwärtig noch ein weiteres Problem dazu. Die Menschen scheinen momentan nur lesen zu wollen, was in ihr Weltbild (Saturn in Schütze) passt. Die Sturheit, mit der sich einige Menschen in ihre eigene Weltanschauung einmauern, ist wirklich bemerkenswert.
In der Vergangenheit habe ich hier das Wort „Verschwörungstheorien“ benutzt, um derartiges „Schützengraben-Denken“ zu charakterisieren. Nach dieser Erwähnung hier, habe ich vor, dieses Wort niemals wieder zu verwenden und zwar, weil ich erkannt habe, dass dieses Wort emotional viel zu stark aufgeladen ist, um in einer sachlichen Diskussion verwendet werden zu können. Was ich damals mit diesem Wort zum Ausdruck bringen wollte, ist die Unterscheidung einer psychisch gesunden von einer pathologischen Überzeugung. Es gibt eine feine Linie zwischen Menschen, die ihre Hypothesen und Theorien noch in Frage zu stellen in der Lage sind und denen, die das nicht mehr können. Es macht auch psychologisch, um nicht zu sagen psychopathologisch, einen Unterschied, ob jemand eine Theorie glaubt, jedoch einräumen kann, dass es sich auch ganz anders verhalten könnte oder ob sich jemand im Besitz einer endgültigen Wahrheit wähnt und alle anderen für uninformiert hält.
Ich erhalte gelegentlich Zuschriften von Menschen solchen Kalibers. Und sie unterstellen mir dann regelmäßig, ich sei uninformiert, ahnungslos, unwissend oder ich würde einfach nicht die richtigen Medien verfolgen. Es trifft sicher zu, dass ich nicht alles weiß. Aber im Gegensatz zu diesen Wahrheits-Besitzern behaupte ich das auch nie! Wenn ich einem Menschen begegne, dessen Meinungsäußerung ich ungewöhnlich finde oder nicht sofort verstehe, pflege ich nachzufragen. Wie meinst du das? Was ist der Hintergrund deiner Feststellung? Woher beziehst du deine Daten? Wie kommst du zu dieser Schlussfolgerung? etc. Ich muss gestehen, das ist viel mühsamer und langwieriger als der schnelle Weg der (aggressiven) Projektion: „Ich Wahrheit! Du dumm!“ – in einer Abwandlung des berühmten Tarzan-Spruchs.
Die eigene Wahrheit noch in Frage stellen zu können, nennt man in der Psychiatrie „Distanzierungsfähigkeit“. Sie wird als Kriterium für den Schweregrad einer psychiatrischen Erkrankung herangezogen. Ist jemand noch in der Lage, seine eigene Weltsicht für möglicherweise falsch zu halten, so ist er psychiatrisch noch einigermaßen gesund. Kann er das nicht mehr („Ich weiß, dass ich von der russischen Mafia verfolgt werde und nichts kann mich vom Gegenteil überzeugen“), so würden wir ihn als hochgradig paranoid oder psychotisch bezeichnen.
In einem anderen Denkmodell, dem wissenschaftlichen, muss eine Theorie das Kriterium der Falsifizierbarkeit erfüllen, um eine wissenschaftliche Theorie genannt zu werden. Viele Theorien, die derzeit durch das Internet geistern, erfüllen dieses Kriterium nicht. Eine Behauptung aufzustellen, die kein Mensch überprüfen kann, mag vielleicht kreativ sein, der Wahrheitsfindung ist es jedoch nicht dienlich. Und einige Psychologen sind heute der Ansicht, dass dergleichen irrationale Überzeugungen sich im Kern kaum von religiösen Fundamentalismen unterscheiden. Insofern lehnt derjenige im Anderen das ab, was er selbst ist, nämlich irrational, fanatisch, unkorrigier- und unbelehrbar.
Wenn ich noch Humor habe und mir ehrlich die Frage stellen kann: „Könnte es sein, dass meine Sicht der Welt falsch ist?“, wäre ich noch ein Wahrheitssuchender, der weiß, dass er nichts weiß. Sobald ich mich im Besitz der Wahrheit wähne, habe ich jedoch den Boden geistiger Gesundheit (hoffentlich vorübergehend und nicht endgültig) verlassen…
Der eingangs zitierte Satz stammt übrigens aus der Bibel, dem Buch Kohelet im Alten Testament (Kapitel 4).
Persönliche Beratung
Eine astrologische Beratung ist in vielen Lebenssituationen hilfreich, insbesondere dann, wenn Sie sich in einer Phase der Neuorientierung befinden oder wenn Sie das Gefühl haben, mehr aus Ihrem Potenzial machen zu können. Für eine individuelle Beratung bereite ich mich ausgiebig vor und beantworte, so gut es mir möglich ist, alle Fragen Ihres konkreten Anliegens. Weitere Informationen zu Ablauf und Kosten einer Beratung finden Sie hier.
Bildnachweis
Die Bilder stammen von pixabay.com, die Astro-Grafiken wurden mit der Software Sarastro erstellt.
Literatur
Ott, Ernst (2015). Mythen und Planeten. Astrologische Götter in uns. Astronova.